Strategische Überlegungen nach der Niederlage gegen G20 Der Kampf gegen die Sicherheitsideologie

Politik

Der Protest gegen G20 war eine Niederlage für die Linke. Zwar war er wichtig und hat im Einzelnen zahlreiche Erfolge zu verzeichnen.

Polizeieinsatz in Hamburg anlässlich der G20 Proteste.
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Polizeieinsatz in Hamburg anlässlich der G20 Proteste. Foto: Thorsten Schröder (CC BY 2.0 cropped)

14. August 2017
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Statt aber viele Menschen gegen die imperialistischen Staaten und für eine solidarische Politik zu mobilisieren, hat sich eine breite Front der anständigen Bürgerinnen gebildet und ist gegen die Linke zusammengerückt. Der Rückhalt von Staat und Polizei in der Bevölkerung ist gestärkt worden.

Schuld daran sind ideologische Reaktionsmuster, die die Ereignisse mit Macht in ein stereotypes Interpretationsschema gepresst haben. Die Art und Weise, wie sich die kollektive Empörung in ihre eigene bizarre Realität zusammengeballt hat, sucht über Jahre hinweg ihresgleichen: Da wurden bürgerkriegsähnliche Zustände beschworen, rechtsbrecherische Polizistinnen zu Heldinnen stilisiert und Linke als Gewalttäter oder mindestens Gewaltverharmloser abgestempelt.

Diese verkehrte Realität hat sich als völlig undurchdringlich erwiesen. Wer diesem Wahrnehmungsraster entgehen wollte, indem er die Polizeigewalt kritisierte, der galt als gleich mit den „gewaltbereiten Linksextremen“. Wer sich indes zum friedlichen Protest bekannte, um doch noch politisches Gehör zu finden, der interessierte augenblicklich in seinen Inhalten nicht mehr. Wer zu radikaleren Aktionen aufgerufen hatte, der war ohnehin schon zum Feind erklärt.

Der Bumerang

Die Sicherheits- und Gewaltideologie ist fatal für die Linke, weil man so gut wie nichts machen kann, um sie zu durchbrechen, und wenn der Protest auch noch so gut vorbereitet und noch so fulminant ist. Sie ist so wirkmächtig, dass ihre Mechanismen bei jedem linken Grossevent zuverlässig einrasten. Da hilft auch keine Aufklärungsarbeit und kein Appell an die Eigeninteressen der Massen. Im Gegenteil, sie ist eine so feste Gestalt der Wirklichkeit, dass die Linke aufhören muss zu hoffen, an ihr vorbei die Menschen doch irgendwie erreichen zu können, und zu glauben, ihr zum Trotz ein „machtvolles Zeichen des Widerstands“ setzen zu können, das doch regelmässig ins Gegenteil verkehrt wird.

Statt eines machtvollen Zeichens und einer linken Mobilisierung der Massen machte sich nach G20 überall das Gefühl breit, dass „wir“ zivilisiert und demokratisch leben wollen, nun aber von halbverrückten Gewalttätern angegriffen werden. Es entstand ein Zusammenhalt, der sich im Schutz von Staat und Polizei geborgen fühlte. Dadurch waren Brüche in der Wahrnehmung der imperialistischen Staaten und der repressiven Staatsgewalt im Zusammenhang mit dem G20-Protest erstmal verhindert – wenn die Gewalt der „linken Chaotinnen“ die Leute beschäftigt, gibt es wenig Raum für kritische Erkenntnis.

Es gibt also weder eine wirkliche Ebene, auf der mit einem solchen linken Grossevent sinnvoll politisch agiert werden könnte – egal ob „gewaltbereit“ oder „friedlich“, noch einen Weg, die Sicherheitsideologie mit „Gegenpropaganda“ zu durchbrechen. Und statt dass der Protest die Massen für linke Positionen mobilisiert hätte, hat er letztlich die Rechte und die Treue zum Staat gestärkt. So scheint sich jede politische Strategie, die mit der Sicherheitsideologie auf einer Ebene agiert, einem Bumerang gleich gegen sich selbst zu wenden.

Radikal sein heisst an die Wurzel gehen

Die Frage ist also brennend, wie eine politische Antwort auf die Sicherheitsideologie formuliert werden kann, insonders, da sie uns quasi bei jedem grösseren Protest-Event beschäftigt.

Dafür heisst es, wie sonst auch: radikal sein oder an die Wurzel gehen. Ich meine damit zwei Dinge. Erstens: Das Sicherheitsdispositiv kann nur dann so wirksam und geschlossen sein, wenn die Menschen selbst unwillkürlich und engagiert darauf ansprechen. Man müsste also die sozialen und psychischen Bedingungen dieses Anspringens identifizieren und überlegen, wie man diese Bedingungen wegkriegen kann. Zweitens: Wenn eine linke Politik, die mit Grossevents eine „linke Öffentlichkeitsarbeit“ leisten will, immer von der Ideologie blockiert ist, dann müssen wir dorthin, wo wir mit den Menschen unmittelbar über ihre eigenen Wahrnehmungen und Probleme sprechen können, in ihren Alltag.

Zum ersten Punkt denke ich, dass es etwa die folgenden drei Bedingungen gibt. Die radikale Linke wird von den meisten Menschen immer nur als Block „ausserhalb der Gesellschaft“ wahrgenommen, mit verrückt klingender radikaler Rhetorik und irgendwo in seltsamen Zeckenläden. Persönlichen Kontakt haben wenige mit Linksradikalen, wenn diese dann überhaupt als solche auftreten. Dass es anders geht, dass persönliches Vertrauen im Alltag aufgebaut, und so die Mystifizierung der linken Gewalt ausgehebelt werden kann, zeigt ausgerechnet das Hamburger Schanzenviertel selbst: Viele Anwohnerinnen solidarisierten sich nach den Krawallen mit der radikalen Linken, insbesondere mit der räumungsbedrohten Roten Florai. Auch die Nacht der Krawalle selbst war bereits ein gemeinsamer Event, in dem organisierte Autonome und ausgelassenes „unpolitisches“ Publikum miteinander zugange waren, und eine gemeinsame Stimmung gegen die herrschende Ordnung spürbar warii.

Eine zweite Bedingung stellen die Massenmedien mit ihren Mechanismen dar. Sie funktionieren nicht nur nach einem Neuigkeitswert von Nachrichten, sondern transportieren vor allem das Aufsehenerregende, die Sensation. So etwas wie Bilder von Gewalt und heldenhafte Polizistinnen eignen sich dafür ganz besonders. Mit youtube und facebook ist es dasselbe. Die normalen Massenmedien müssen zudem aber „die Öffentlichkeit“ abbilden: offizielle Autoritäten, anerkannte Sprecherinnen, die bürgerliche Debatte. Für die Stimmen von Linksaussen ist kein Platz in ihnen, allenfalls als Kuriosum oder eben als gewalttätige Bedrohung. Hätten wir dagegen eine gewisse alternative Medienmacht, hätte die Realität der Ereignisse anders dokumentiert werden können. Wir müssten dafür eine echte, gesellschaftlich verankerte Gegenöffentlichkeit aufbauen.

Die „Massenbasis“ der Sicherheitsideologie, das ist die dritte Bedingung, bilden aber wie beim Faschismus die Menschen selbst, genauer gesagt ihre entfremdeten Bedürfnisse in der kapitalistischen Gesellschaft. Es sind Bedürfnisse, die aus der der alltäglichen sozialen Isolation, der kapitalistischen Konkurrenz, der Knechtung durch Männer, Ämter und Arbeitgeberinnen erwachsen. In der Gemeinschaft der Anständigen und im Lostreten gegen die linken Chaoten können diese Bedürfnisse eine scheinhafte Befriedigung erfahren. Um da gegenzusteuern, geht kein Weg daran vorbei, dass die Menschen sich in ihren Stadtteilen, Betrieben und öffentlichen Institutionen organisieren und Beziehungen der Solidarität aufbauen. Das stellt der Isolation eine konkrete soziale Gemeinschaft entgegen und der Ohnmacht eine Perspektive des politischen Kampfes.

Reale Gegenmacht

Damit sind wir auch direkt beim obigen zweiten Punkt, beim Alltag: Um gegen die ideologische Wahrnehmung antikapitalistischer Positionen etwas zu unternehmen, macht es letztlich keinen Sinn, direkt gegen die Sicherheitsideologie zu kämpfen. Linksradikale Praxis muss auf eine andere Ebene, auf der es nicht nur die Ideologie gibt, sondern auf der die Menschen sich auf ihre eigenen Wahrnehmungen und Betroffenheiten besinnen können: In die Alltagskämpfe. Die antilinken Scheuklappen sind da zwar immer auch da, aber in persönlichen Beziehungen zur Basis und im konkreten gemeinsamen Kampf können wir die Dominanz der Ideologie umgehen. Im realen Widerstand kann sich ein politisches Bewusstsein bilden, das die Sicherheitsideologie auf der Ebene des Grossevents trotz noch so intensiver Vorbereitung stets verhindern wird.

Dies sind alles keine Antworten, die schnell organisiert werden könnten oder einen kurzfristigen Erfolgseffekt bringen könnten. Als kurzfristige Antwort auf die antilinke Stimmung steht jetzt politisch ohne Frage erstmal an, diesen ideologischen Interpretationen öffentlich und geschlossen entgegenzutreten. Aber in diesem Kampf agieren wir aus der völligen Defensive, eher um zu retten, was irgendwie noch zu retten ist. Wirklich anknacksen können wir die Sicherheitsideologie auf diese Weise nicht, und vor allem stehen wir bei jedem neuen Grossevent vor demselben Schlamassel. Wir müssen daher raus aus der kurzfristigen Politik und die Sache mit langem Atem und weitblickendem Denken angehen, und zwar möglichst koordiniert von der gesamten radikalen Linken. Dafür ist es nötig, strategisches Denken in den Kern der linksradikalen Praxis zu bringen und eine strategische Neuausrichtung durchzuführen, wie sie mittlerweile an vielen Stellen diskutiert wird.iii

Wenn sich die Massen selbst organisieren, widerständige Militanz in ihrem Alltag aufbauen und ihre Konflikte mit dem grossen Ganzen zusammenbringen lernen, dann wird dem nächsten G20 ein ungeahnter Event entgegentreten, der nur die gemeinsame Demonstration der organisierten Massen, einer realen Gegenmacht von unten sein wird.

lcm

Fussnoten:

i https://www.facebook.com/CantinaPopularHamburgo/posts/2009834439251557

ii http://komaufbau.org/widerstand-im-herzen-der-bestie-ist-moglich-10-lehren-aus-den-g20-protesten/

iii Vergleiche dazu vor allem: Kollektiv! (Bremen), „Für eine grundlegende Neuausrichtung linksradikaler Politik“, http://lowerclassmag.com/2016/07/fuer-eine-grundlegende-neuausrichtung-linksradikaler-politik/ und Antifa Kritik & Klassenkampf (Frankfurt a. M.), „Der kommende Aufprall“, des Weiteren den Kongress „Selber machen“ vom April 2017 und die auf der Website gesammelten Beiträge und Papiere: https://www.selbermachen2017.org. Auch innerhalb der eher kampagnenorientierten Organisationen interventionistische Linke und Ums Ganze werden mittlerweile interne strategische Kontroversen immer deutlicher, siehe etwa http://blog.interventionistische-linke.org/g20-gipfel